Stadt Hanau – Vorzulesen oder vorgelesen zu bekommen ist etwas sehr Persönliches. Bei den meisten von uns weckt es Erinnerungen an Kindertage, in denen die geheime Welt der Schrift nur durch das Vorlesen ihr Wissen offenbarte. In Hanau hat das Vorlesen Tradition. Seit 2005 findet die Aktion „Hanau liest ein Buch“ alle zwei Jahre statt. Zum siebten Mal richtet die Brüder-Grimm-Stadt ein Lesefestival aus, das Menschen jeden Alters begeistern will.
Durch die Oberlichter des Lesecafés im Kulturforum Hanau ziehen kleine weiße Wolken vor strahlend blauem Himmel dahin. Man nimmt die Umgebung um sich herum viel aufmerksamer wahr, während man zuhört. Die Stimme von Christine Theobald füllt die Stille der Bibliothek. Anfangs ist es schwer, den Alltag loszulassen, die Hektik, den Stress, die Eile. Doch nach und nach fängt sie ihr Publikum ein – die Macht des Erzählens. Immer klarer folgen die Gedanken dem Gehörten, bis die Geschichte einen ganz und gar gefangen nimmt. Theobald ist Vorleserin bei „Hanau liest ein Buch“. Die 84-jährige Rentnerin liest leidenschaftlich gern. Dass die aktuelle Geschichte sie emotional mitnimmt, hört man ihr beim Vorlesen an. Sie bewundert die Autorin, die ein so vielschichtiges und faszinierendes Buch geschrieben hat. „Das Buch bildet alle Facetten ab und man merkt einfach: Das ist aus dem Leben.“
„Hanau liest ein Buch“. Nicht irgendeins. Eine Jury wählte es sorgsam unter vielen aus. Alle Hanauerinnen und Hanauer sind alle zwei Jahre eingeladen Vorschläge zu äußern. Die Jury, bestehend aus Vertretern und Vertreterinnen der beiden Buchläden am Freiheitsplatz und der Stadtbibliothek, prüft die Vorschläge nach verschiedenen Kriterien. Zum Beispiel soll das Buch gut zu lesen, gut geschrieben und auch gut vorzulesen sein – das klingt einleuchtend. „Man soll staunen. Innehalten und Nachdenken.“ sagt Beate Schwartz-Simon, Leiterin der Stadtbibliothek und Jury-Mitglied. „Das von uns ausgewählte Buch muss einen Widerhaken haben, indem man sich verfangen kann“, erklärt sie.
Das Buch „Und dann steht einer auf und öffnet das Fenster“ von Susann Pásztor greift ein Thema auf, das einen solchen Widerhaken hat. Eines, das jeden Menschen über kurz oder lang beschäftigt: Der Tod. Man könnte auch sagen –das Sterben. Aber wie jeder einzelne mit dem nahenden Tod umgeht, das erzählt viel mehr eine Geschichte vom Leben als vom Sterben. Viel mehr, als man es vor dem Lesen des Buchs erwarten würde. Unpathetisch und humorvoll, einfühlsam und mit sicherem Gespür für menschliche Gefühlslagen erzählt Pásztor von Fred, der als ehrenamtlicher Sterbebegleiter der reservierten und eigensinnigen, an Krebs erkrankten, Karla während ihrer letzten Tage Beistand leistet. Dabei findet der Alleinerziehende wieder zurück ins Leben und einen ganz neuen Zugang zu seinem Sohn.
Ein warmherziger, lebensbejahender Roman, der sich mit ernsten Themen auseinandersetzt. Als Leser staunt man beizeiten: Ein stilvoller subtiler Humor, der ab und an unfassbar witzig ist. Darf ein Buch übers Sterben überhaupt so witzig sein? Anette Böhmer, Leiterin der Arbeitsgemeinschaft Hospizdienst in Hanau, sagt ja: „Genauso ist es. Ohne Pathos. Aber oft mit sehr viel Humor“. Liest man weiter im Buch, dann kann es passieren, dass bereits der nächste Satz total betroffen macht. Die Autorin ist wahrlich eine Meisterin, wenn es darum geht, mit den Gefühlen der Leser und Leserinnen zu spielen. Sie weiß, wovon sie schreibt. Susann Pásztor ist selbst Sterbebegleiterin, wie ihr Hauptcharakter im Buch.
Ein weiterer Vorleser ist Eberhard Kraft. Der 63-jährige ist seit vielen Jahren Lehrer für Deutsch und Politik an der Eugen-Kaiser-Schule. Der Mann mit dem Bart und der Lesebrille gibt einen guten Vorleser ab. Im wunderschön gestalteten Schulpark der Eugen-Kaiser-Schule setzt sich Kraft auf eine Parkbank unter einem Apfelbaum neben zwei Schülerinnen. „Möchtet ihr gern etwas vorgelesen bekommen?“ fragte er sie. Beide schütteln schüchtern den Kopf, viel zu vertieft in ihre Handys. Fast sieht es so aus, als ob auch sonst keiner der Schülerinnen und Schüler sein Angebot des Vorlesens wahrnehmen wird. Doch dann kommen noch zwei seiner Schüler daher, um ihrem Lehrer zuzuhören. Kraft fängt an Vorzulesen, hält ab und zu inne und fragt oder erklärt seinen Schülern etwas. „Das Buch hilft dabei Rollen zu überdenken. Das Vorurteil wer hilft ist stark, wer geholfen kriegt ist schwach – das kann sich hier nicht halten. Diese Rollen zu überdenken und sie differenzierter zu betrachten – das ist es, was dieses Buch für mich ausmacht.“
Deshalb arbeitet er auch im Unterricht immer wieder, wenn es passt, mit den Büchern der Aktion „Hanau liest ein Buch“. Die beiden Mädchen auf der Parkbank sind übrigens sitzen geblieben. Spontan hatten sie verneint, jetzt hören sie doch heimlich ganz aufmerksam zu. Die Handybildschirme werden schwarz, weil sie vergessen, weiter zu tippen. Die Macht des Vorlesens entfaltet ihre Wirkung.
Die Atmosphäre des Gleks-Park genannten Schulhofs ist eine ganz besondere. Es ist ein bisschen wie Urlaub. Mitten in Hanau. Nicht weit von der Parkbank, auf einem überdimensionierten Schachbrett rücken zwei Jungen die Figuren. Auch diese beiden schauen interessiert herüber. Vorlesen ist nicht besonders attraktiv für junge Heranwachsende. Und so richtig cool ist es auch nicht. Das ist ja nur was für Kinder. Oder? Aber auch die jungen Erwachsenen können sich der Magie des Augenblicks nicht ganz entziehen. „Die Geschichte erzählt auch vom Wert des Ehrenamts. Vielleicht kann ich da den einen oder die andere erreichen und ihnen etwas über diesen Wert vermitteln– das wäre wirklich toll.“ sagt der Lehrer.
Wie dieser Wert mit Leben erfüllt wird, zeigt er als Vorleser. Er geht mit gutem Beispiel voran, als einer von über 100 Hanauerinnen und Hanauer, die sich wie er ehrenamtlich als Vorleser und Vorleserin für „Und dann steht einer auf und öffnet das Fenster“ gemeldet haben. So viele wie noch nie zuvor, freut sich Beate Schwartz-Simon über den Erfolg des Lesefestivals. Jede Leserin und jeder Leser nimmt das Buch anders wahr – und die Vielfalt der Eindrücke und Empfindungen wächst ganz besonders beim Vorlesen. Im Anschluss daran mit anderen diskutieren zu können, macht neben dem Zauber des Vorlesens viel von „Hanau liest ein Buch“ aus.
Zurück im Lesecafé im Kulturforum. Christine Theobald schließt das Buch, hält ein wenig inne und bedankt sich dann für die Aufmerksamkeit ihrer Zuhörerinnen und Zuhörer. Die Stille der Stadtbibliothek füllt den Raum. So schwer es anfangs fiel, den Alltagsstress loszulassen, so tief verfing das Vorlesen. Einige schauen verdutzt auf die Uhr – wie unbemerkt doch eine halbe Stunde vergehen kann.
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