Leitartikel von Claudia Bockholt
Presseschau – Regensburg (BY) – Hinter jedem Prozentpunkt stecken kleine Menschen. Das muss man sich vor Augen führen, wenn man sich durch die neuesten Zahlenkolonnen der Bertelsmann-Stiftung arbeitet. Am Beginn einer Schullaufbahn müsste ja eigentlich noch alles drin sein: die ganze Palette persönlicher Entwicklung zwischen Scheitern und Erfolg. Doch wieder zeigt sich: Bayern stellt die Weichen zu früh. Nicht nur, weil es auf bürgerliche Elitenförderung setzt und den Nachwuchs bildungsferner Schichten abhängt.
Sondern auch, weil Kinder in einzelnen Regionen von vornherein schlechtere Aussichten auf einen hohen Bildungsabschluss haben – ebenfalls ganz unabhängig davon, was ihr Kopf hergibt. Den Tadel dafür hat nicht nur das Bildungsministerium verdient. Hier haben einige ihre Hausaufgaben nicht gemacht. Allzu gemächlich zockelt das moderne Bildungsland Bayern weiter der gesellschaftlichen Entwicklung hinterher. Mehr berufstätige Frauen, mehr Alleinerziehende, weniger Kinderbetreuung im Familienverbund:
Die Antwort darauf sollte die gebundene Ganztagsschule sein – die gleichzeitig Kindern aus bildungsfernen Schichten erlaubt, ihre Defizite etwa in der Sprachentwicklung auszugleichen. Doch seit 2010 ist der Anteil der Schüler, die nachmittags betreut werden, nur von 10,5 auf 12,4 Prozent gestiegen. Der Bundesdurchschnitt liegt fast dreimal so hoch. Und häufig handelt es sich bei er Betreuung um wenig mehr als Hausaufgabenaufsicht. „Konsequent baut Bayern Ganztagsschulen aus, um Schülerinnen und Schüler unabhängig vom Elternhaus noch stärker zu fördern“:
Verschnupft reagierte das bayerische Bildungsministerium gestern auf die Kritik aus Gütersloh. Einen verräterischen Satz schob es noch schnell hinterher: „Die Entscheidung liegt bei den Eltern, ob ein Kind eine Ganztagsschule besucht.“ Da fragt man sich, ob politischer Wille zum Ausbau der Ganztagsbetreuung tatsächlich da ist – oder ob nicht Entwicklungspotenziale von Kindern durchaus bewusst verschenkt werden, weil am tradierten Familienbild der CSU festgehalten werden muss. Auch die bayerischen Kommunen müssen sich fragen lassen, ob sie das große Ganze im Blick haben oder nur auf eigene Interessen schielen. Als Zuständige für den Schulentwicklungsplan sind sie verpflichtet, die Infrastrukur für flächendeckend bestmögliche Bildung sicherzustellen. Tatsächlich kommt aber der „Chancenspiegel“ zum Schluss, dass die Übertrittsquoten an höhere Schulen regional höchst unterschiedlich sind – weil die Versorgung mit Schulen am Ort unterschiedlich ist.
Die Zahl der Schüler, die ihre Schullaufbahn ohne Abschluss beenden, differiert regional ebenfalls sehr stark. Wie kann das sein? Zusammenraufen, statt sich gegenseitig Konkurrenz machen: Das sollte für den ländlichen Raum gelten. Dafür brauchen die Kommunen allerdings die Unterstützung des Freistaats. Ohne flexiblere Handhabung der Schulformen wird die Schullandschaft weiter ausdünnen, statt möglichst viele junge Menschen möglichst weit nach oben zu katapultieren. Wer aus gutem Hause kommt und genug Grips hat, dem bietet Bayern die perfekte Startrampe. Diese Kinder, so die Studie, sind ihren Altersgenossen in Mathematik um Jahre voraus. Jetzt müssten nur noch die mitgenommen werden, denen es das Leben schwerer macht.
Im reichen Deutschland wächst mit jedem Kind das Armutsrisiko. Weil Bildung verhindert, dass aus armen Kindern arme Erwachsene werden, bringt hier jeder Euro gute Rendite. Es sei daran erinnert, dass sich die skandinavischen Musterschüler die Zukunft ihrer Kinder im Schnitt 50 Prozent mehr kosten lassen. Die können wirklich rechnen.
OTS: Mittelbayerische Zeitung